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Jonas Holthaus / laif

Starphilosoph Yuval Noah Harari über Israel »Als würden die Menschen Päckchen mit ihrer Wut schnüren und in den Nahen Osten senden«

Ist die Welt noch zu retten? Hier spricht der israelische Historiker Yuval Noah Harari über den Krieg in seiner Heimatregion, den Einfluss Chinas und Russlands – und sagt, was er den Europäern rät.
Ein Interview von Nicola Abé

Das Treffen mit Yuval Noah Harari findet in einem Londoner Apartment statt, eine Adresse am Golden Square in Soho. Kurz vor dem verabredeten Zeitpunkt muss ein Assistent angerufen werden. Er geleitet ins Haus, vorbei an einem freundlich lächelnden Portier. Der Aufzug mündet direkt in eine schicke Wohnküche.

Harari empfängt in Wollpulli und Jeans, gewohntes Understatement, nur sieht er noch ein wenig dünner aus als sonst. Hat er Israel verlassen? Harari reagiert bestürzt. Nein, doch nicht in diesen Zeiten, da könne er doch seine Heimat niemals zurücklassen, in dieser schweren Krise. Solange es noch irgendeine Hoffnung gebe, würde er bleiben, versuchen, eine Katastrophe zu verhindern.

London ist nur eine Promotiontour, unter anderem für seine neue Graphic Novel Sapiens. Das Spiel der Welten. Das schicke Apartment ist nur ein Airbnb. Seine Helfer, darunter sein Ehemann Itzik Yahav, tragen eifrig Nüsschen und Wasser heran: Kaffee? Tee? Harari lässt den Gast den Sitzplatz wählen. Man soll sich wohlfühlen in seiner Gesellschaft.

SPIEGEL: Herr Harari, wir haben uns vor fünf Jahren in Tel Aviv unterhalten. Sie waren optimistisch. Was bedeutet der 7. Oktober für Ihr Land und für den Nahen Osten?

Harari: Sowohl Israelis als auch Palästinenser müssen ihre schlimmsten Albträume, ihre Urangst, noch einmal neu erleben. Das Ergebnis: Jedes verbliebene Vertrauen in die andere Seite ist völlig zerstört. Beide Seiten sind nun voller Hass und Angst. Und sie sind es aus gutem Grund. Das ist ein psychologisches Problem. Der Schmerz ist jetzt so groß, dass die Menschen nicht mehr dazu in der Lage sind, das kleinste bisschen Empathie für den anderen zu empfinden. Wenn man lediglich versucht, etwas über das Leid der anderen Seite zu sagen, gilt das bereits als unerträglicher Verrat.

SPIEGEL: Also eine völlig verfahrene Lage.

Harari: In dieser Situation ist es unmöglich, eine Vision von Versöhnung oder einer besseren Zukunft zu entwickeln. Und deshalb brauchen wir die Welt. Um Frieden zu schließen, ist Vertrauen nötig. Das muss uns jetzt von außen injiziert werden. Aber stattdessen bekommen wir eine Spritze voll Chaos, Misstrauen und Hass.

SPIEGEL: Sie meinen, Akteure von außen befeuern den Konflikt?

Harari: Ja, Russland oder Iran beispielsweise. Es erreicht uns derzeit aber auch der Hass von Menschen aus aller Welt. Man kann das in den sozialen Medien sehen und in der öffentlichen Debatte etwa in den USA, Großbritannien oder Deutschland. Menschen, die weder Israelis noch Palästinenser sind, die keine Familien in der Region haben und nie dort gelebt, zeigen eine Empörung und Feindseligkeit, so starke Gefühle, das ist kaum mehr fassbar. Es ist beinahe so, als würden sie ein Päckchen mit ihrer Wut schnüren und in den Nahen Osten senden.

Propalästinensische Demonstration in New York

Propalästinensische Demonstration in New York

Foto: Andres Kudacki / AP / picture alliance

SPIEGEL: Was die Kritik an Israel betrifft, bilden Palästinenser, Menschen im Globalen Süden und woke Linke eine unerwartete Allianz. Haben Sie eine Erklärung?

Harari: Das ist das Erbe des Marxismus, der eine sehr vereinfachte Sichtweise auf Politik und Geschichte geschaffen hat. Demnach ist die gesamte Historie der Menschheit nur ein Kampf zwischen Unterdrückern und Unterdrückten. In diese beiden Kategorien wird die Welt unterteilt: Die Unterdrücker sind 100 Prozent böse, die Unterdrückten 100 Prozent gut. Die Menschen nehmen diese simple Schablone und wenden sie auf eine hochkomplexe Situation wie Israel und Palästina an.

SPIEGEL: Und dieses Denken ist dann sowohl für Staatschefs im Globalen Süden als auch für junge westliche Akademiker anschlussfähig?

Harari: Von den progressiven Linken im Westen hören wir derzeit viel zum Thema Kolonialismus, was natürlich auch den Globalen Süden stark beschäftigt. Israel wird als europäische Kolonialmacht betrachtet. Man lässt völlig außer Acht, dass ein großer Teil der Israelis aus dem Nahen Osten stammt und nach 1948 aus anderen Ländern der Region wie dem Irak, Ägypten oder aus dem Jemen flüchten mussten.

SPIEGEL: Hat diese Entwicklung Ihre Sicht auf progressive Bewegungen verändert?

Harari (lacht verlegen): Ich war tatsächlich enttäuscht. Ich bin selbst sehr kritisch, was die israelische Regierung angeht. Ich verstehe, dass man gegen die Kriegsführung in Gaza protestiert. Aber diese extrem vereinfachte Denkweise verstehe ich nicht, gerade von Leuten, die Künstler oder Akademiker sind. Wie kann man die Gräueltaten des 7. Oktober schlicht abstreiten, nur weil sie nicht ins Bild passen? Oder aber meinen, sie seien völlig gerechtfertigt, weil Israel schließlich der Unterdrücker sei? Wenn man gegen Kolonialismus und Unterdrückung kämpft, kann man also tun, was man will? Das ist ein Betrug an der Grundidee der universellen Menschenrechte, für die diese Leute angeblich kämpfen.

Mutter der Zwillinge Wesam und Naem, die durch israelische Luftangriffe in Gaza getötet wurden

Mutter der Zwillinge Wesam und Naem, die durch israelische Luftangriffe in Gaza getötet wurden

Foto: Mohammed Salem / REUTERS
Israelis unter Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen

Israelis unter Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen

Foto: Dor Kedmi / AP

SPIEGEL: Israel führt seit fünf Monaten Krieg in Gaza. Zehntausende Menschen wurden getötet. Die humanitäre Lage ist katastrophal. Der Globale Norden unterstützt Israel weitgehend; viele Länder des Globalen Südens verurteilen den Krieg, sehen die moralische Glaubwürdigkeit des Westens unterminiert.

Harari: Was in Gaza geschieht, ist eine furchtbare Tragödie, und wir müssen einen Weg finden, sie zu beenden. Der Globale Norden und der Globale Süden sollten zusammenarbeiten, um eine langfristige Friedenslösung zu finden.

SPIEGEL: Der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva und weitere Staatschefs plädieren seit Langem für eine multipolare Weltordnung und neue Allianzen, auch mit Putin und Iran. Durch die jetzt vermeintlich ausgemachten Doppelstandards des Westens sehen sie sich möglicherweise erst recht bestätigt. Fürchten Sie nicht die geopolitischen Auswirkungen dieser Entzweiung?

Harari: Die Situation ist gefährlich. Es wäre ein großer Fehler, wenn Länder wie Südafrika oder Brasilien darüber die liberale Weltordnung in Zweifel ziehen würden. Wir brauchen ihre Unterstützung, um sie aufrechtzuerhalten. Und ich kann dem brasilianischen Präsidenten nur raten, sie nicht zu riskieren – nicht, um uns einen Gefallen zu tun – sondern für die Brasilianer! Die liberale Weltordnung ist nicht perfekt, es gibt Ungerechtigkeiten. Aber wenn sie kollabiert, würde der Globale Süden noch sehr viel mehr unter dem Chaos leiden als Europa oder die Vereinigten Staaten.

»Wir können den dritten Weltkrieg noch verhindern. Aber viel darf nicht mehr schiefgehen«

Yuval Noah Harari

SPIEGEL: Sie bezeichneten das frühe 21. Jahrhundert als goldenes Zeitalter des Friedens, das vorbei ist. Befinden wir uns bereits im dritten Weltkrieg?

Harari: Ich weiß es nicht. Tatsächlich könnten wir uns bereits mitten in einem neuen Weltkrieg befinden. Wir sehen immer mehr Konflikte, und sie hängen zusammen. Die Bedeutung historischer Ereignisse erschließt sich oft erst im Rückblick. Der Zweite Weltkrieg sah zu Beginn aus wie ein regionaler Konflikt in Osteuropa, für Menschen in New York, Stalingrad oder Hiroshima. Heute weiß jeder, was am ersten September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen begann. Wenn die Menschheit überlebt, könnte es gut sein, dass, sagen wir in 50 Jahren, in der Schule gefragt wird: Wann fing der dritte Weltkrieg an? Und alle Kinder wissen genau: Es war der 24. Februar 2022, der Tag, an dem Russland die Ukraine überfiel.

SPIEGEL: Die weltweiten Konflikte verbindet, dass antiwestliche Kräfte sie befeuern. Sie erwähnten Russland und Iran. Halten Sie eine Eskalation für unausweichlich?

Harari: Solange der Streit im Südchinesischen Meer nicht entflammt, habe ich Hoffnung. Würde es zu einer vollumfänglichen Konfrontation zwischen dem Westen und China kommen, wäre das ein völliger Gamechanger. Neben den unmittelbaren, katastrophalen Auswirkungen hätte die Menschheit dann keine Chance mehr, die drängenden Herausforderungen der Zukunft zu meistern. China verhält sich auf internationaler Ebene bislang allerdings viel verantwortungsvoller als Russland. Ich glaube also, dass wir den dritten Weltkrieg noch verhindern können. Aber viel darf nicht mehr schiefgehen.

Chinesischer Staatschef Xi Jinping erhält eine Auszeichnung vom südafrikanischen Staatschef Cyril Ramaphosa

Chinesischer Staatschef Xi Jinping erhält eine Auszeichnung vom südafrikanischen Staatschef Cyril Ramaphosa

Foto: Michele Spatari / Bloomberg / Getty Images

SPIEGEL: Wie sind wir in diese Lage hineingeraten?

Harari: Es gab eine funktionierende internationale Ordnung. Sie wurde angegriffen und untergraben, einerseits von Russland, das sie nie richtig akzeptiert hatte. Aber auch aus dem Inneren, etwa durch die Wahl von Trump oder die Entscheidung zum Brexit. Auch die Länder, die einmal ihre Architekten waren, haben sich also gegen sie gewandt. Wenn man eine Ordnung zerstört, ohne eine Alternative zu haben, dann entsteht Unordnung, Chaos. Natürlich war das frühe 21. Jahrhundert kein Idealzustand, es gab viele Probleme. Aber es war die friedlichste und wohlhabendste Periode aller Zeiten. Ein Indikator dafür: Zum ersten Mal überhaupt gaben Regierungen weltweit mehr für ihre Gesundheitssysteme aus als für das Militär.

SPIEGEL: Was würde ein Sieg Putins in der Ukraine für die liberale Weltordnung bedeuten?

Harari: Es wäre ihr Ende. Es ist wie in der Schule: Es gibt eine Norm, die festlegt, dass ein Schlägertyp kleinere Kinder nicht hauen darf. Und dann kommt der größte Schläger auf den Schulhof und beginnt, ein Kind zu verprügeln. Und alle Kinder stehen im Kreis drumherum, und schauen, was jetzt passiert, ob der Gewalttäter gestoppt und bestraft wird. Wenn das passiert, wurde das Normsystem der Schule gestärkt. Aber wenn er davonkommt, dann werden wir in Zukunft immer mehr Schlägereien sehen. Wir können derzeit in Südamerika beobachten, wie der venezolanische Präsident Nicolás Maduro androht, ins benachbarte Guyana einzumarschieren und es zu erobern, mitsamt der Ölvorräte. Das wäre noch vor einigen Jahren undenkbar gewesen. Wenn wir Putin davonkommen lassen, dann werden wir immer mehr Putins bekommen.

SPIEGEL: Wie kann er gestoppt werden?

Harari: Putin wird weiter Krieg führen, solange er glaubt, dass er militärisch gewinnen kann. Wenn er denkt, dass er nur ein, zwei oder fünf Jahre durchhalten muss, bis die Europäer oder die Amerikaner kriegsmüde werden und die Unterstützung für die Ukraine herunterfahren, dann macht er weiter. Es braucht ein starkes Zeichen der USA und Europas, um ihn zu stoppen und zu ernsthaften Verhandlungen zu bewegen. Eine Möglichkeit bestünde darin, die 300 Milliarden an russischem Vermögen in Europa, Japan und den USA an die Ukraine zu transferieren. Sie hätte dann das, was sie braucht, um der russischen Aggression zu widerstehen – egal was bei den US-Wahlen im November passiert. Klar gibt es rechtliche Hürden. Aber es geht hier nicht um die Frage, ob man selbst Streitkräfte in die Ukraine schicken muss – letztlich geht es um ein paar Mausklicks an einem Computer. Es ist machbar.

»Wenn wir Putin davonkommen lassen, dann werden wir immer mehr Putins bekommen«

Yuval Noah Harari

SPIEGEL: Vom deutschen Mittelweg, der Zögerlichkeit, wenn es um Waffenlieferungen geht, halten Sie demnach wenig?

Harari: Es ist immer das Gleiche: Vor der Invasion baten die Ukrainer die westlichen Mächte, mehr Waffen zu schicken. Das wurde ihnen verweigert, weil man Putin nicht provozieren wollte. Also hatte das Land relativ wenige Waffen – und Putin marschierte trotzdem ein. Die Ukrainer kämpften erstaunlich erfolgreich und baten wieder um Waffen. Und dann hörte man das gleiche Argument: Wenn wir zu viel schicken, dann provozieren wir Putin. Also ging es, gerade was schwere Waffen betraf, langsam voran. Wäre das anders gewesen, der Krieg wäre möglicherweise bereits beendet. Und jetzt hören wir wieder die gleiche Leier: Wir können nicht zu viele Waffen schicken, um Putin nicht zu provozieren. So funktioniert das nicht. Die Russen warten nicht darauf, provoziert zu werden. Wer das glaubt, ist auf ihre Propaganda hereingefallen.

SPIEGEL: In den USA wird im November möglicherweise Donald Trump erneut zum Präsidenten gewählt. Er hat bereits mehrfach gedroht, aus der Nato auszusteigen. Zuletzt hat er sogar Russland ermutigt, weitere Gebiete zu erobern.

Harari: Die Europäer müssen endlich selbstständig werden. Sogar wenn Trump verlieren sollte, ist das der letzte Weckruf. Europa kann nicht alle vier Jahre warten, wer wohl der nächste US-Präsident wird. Die EU, und wenn man weitere Länder wie Großbritannien hinzunimmt, sind immer noch ein den USA ebenbürtiger wirtschaftliche Block. Sie können sich ohne diese verteidigen, wenn sie das wollen. Sie können auch der Ukraine helfen. Aber sie müssen sich politisch und militärisch völlig verändern.

US-Außenminister Antony Blinken in Washington, im Hintergrund propalästinensische Demonstranten

US-Außenminister Antony Blinken in Washington, im Hintergrund propalästinensische Demonstranten

Foto: Kevin Lamarque / REUTERS

SPIEGEL: Sie werfen Europa Schlafwandeln vor und plädieren für radikale militärische Aufrüstung?

Harari: Genau. Es gilt wieder die alte Maxime: Wer Frieden will, muss sich für den Krieg rüsten.

SPIEGEL: Pazifismus, Abrüstung und Annäherungspolitik – war das alles naiv?

Harari: Es war erfolgreich – bis zu einem gewissen Punkt. Wenn man es mit einer akuten Bedrohung zu tun hat, dann muss man anders handeln. Die Europäer haben 20 Jahre lang verschiedene Strategien ausprobiert mit Putin. Irgendwann muss man deren Scheitern anerkennen. Nach 2014 haben sie immer wieder versucht, russische Aggressionen einzuhegen, indem sie Russlands Interessen beachteten. Diese Strategie ist gescheitert. Aber die Europäer haben die Ressourcen, um es anders zu machen. Und natürlich argumentiere ich nicht dafür, Russland anzugreifen. Ich kenne niemanden, der das tut. Das ist Putins Fantasie und sein Versuch, so den Krieg in der Ukraine zu rechtfertigen. Er habe präemptiv angegriffen, um einen Nato-Schlag zu verhindern.

SPIEGEL: Glaubt Putin das selbst?

Harari: Nationale Interessen, sind oft nicht durch objektive Vernunft geformt, sondern entstehen aus mythologischen Narrativen, die sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt haben. Putin hat über die Jahre aussagekräftige Essays geschrieben, er hat neulich Tucker Carlson ein mehrstündiges Interview gegeben...

SPIEGEL: ...der konservative, amerikanische Moderator und Trump-Unterstützer...

Harari: Es war eine Geschichtsstunde, die die meisten Historiker als Fantasie bezeichnen würden. Aber ich denke, er glaubt das: Es handle sich hier um einen unvermeidbaren Konflikt zwischen Gut und Böse, dass teuflische Mächte Russland zerstören wollen und er es schützen muss. Die historische Mission Putins endet nicht mit der Eroberung der Ukraine. Wenn man das, was er sagt, ernst nimmt, dann ist der Kollaps der Sowjetunion die größte Katastrophe in der Geschichte der Menschheit. Er möchte die Uhr zurückdrehen auf vor 1989.

»Die gute Nachricht: Ob unsere Systeme überleben, liegt in unseren Händen, nicht in Putins oder Xis.«

Yuval Noah Harari

SPIEGEL: Sie haben in Ihren Büchern und Reden immer die liberale Demokratie verteidigt, eine Staatsform, die Sie aufgrund ihrer Anpassungsfähigkeit für besonders stark hielten. Heute steht sie von innen wie außen stark unter Druck.

Harari: Die nächsten Wahlen in den Vereinigten Staaten könnten tatsächlich die letzten demokratischen in der Geschichte der USA sein. Wenn Trump gewinnt und umsetzt, was er angekündigt hat, dann ist es wahrscheinlich, dass er in den kommenden vier Jahren die Gewaltenkontrolle abschafft und die Wahlen von 2028 auf verschiedene Arten manipuliert sein werden.

SPIEGEL: Wie viel hat das mit der Person Trump zu tun?

Harari: Die darunterliegende Kraft, die wir in vielen Demokratien weltweit sehen, ist der Populismus. In einer Demokratie geht die Macht vom Volk aus, das erkennen wir alle an. Populisten behaupten, dass nur sie das Volk vertreten. Wer sie nicht unterstützt, gehört nicht dazu, sogar wenn es sich um die Mehrheit handelt. Das sind dann die Eliten, die Ausländer, die Verräter. Nicht Teil des Volkes. Wenn Populisten Wahlen verlieren, dann behaupten sie, die seien gefälscht gewesen; wenn sie gewinnen, schaffen sie demokratische Kontrollmechanismen ab, denn sie sind ja das Volk, und die Macht des Volkes sollte nicht begrenzt werden. Wir sehen diese Krankheit in Demokratien weltweit.

SPIEGEL: Eine liberale Demokratie beruht auf Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann, besagt das sogenannte Böckenförde-Dilemma. Eine davon, die Sie immer herausgehoben haben, ist eine positive Vision von Zukunft, der Glaube an Freiheit und Fortschritt. Wie kann Hoffnung angesichts dieser Weltlage gelingen?

Harari: Indem wir uns klarmachen, dass wir die Ressourcen haben, um die drängendsten Herausforderungen zu bewältigen. Wir können den Klimawandel abmildern, er ist kein gottgemachtes Armageddon. Künstliche Intelligenz ist noch immer unsere Kreation. Das Gleiche gilt für das Chaos, das die Welt bedroht: Liberale Demokratien sind nach wie vor der mächtigste Block der Welt. Die ultimative Bedrohung kommt nicht von Autokratien wie Russland oder Iran, sondern entspringt unseren eigenen, inneren Spaltungen. Die gute Nachricht: Ob unsere Systeme überleben, liegt in unseren Händen, nicht in Putins oder Xis. Ich erinnere an die Sechzigerjahre in den USA, die Zeiten der Bürgerrechtsbewegung und der sexuellen Revolution; es herrschte ein erbitterter Kulturkampf. Der Kommunismus erschien stabil, die ideologischen Gräben im Westen unüberwindbar, damals gab es deutlich mehr politische Gewalt als heute. Spult man 20 Jahre vor, war es der Kommunismus, der zusammenbrach – nicht die liberale Demokratie.

SPIEGEL: Demokratien haben die Kraft, sich selbst zu korrigieren und zu erneuern.

Harari: Ich sage aber nicht, dass es so kommen wird. Wenn sich zwei große Gruppen in einem Land nicht mehr als politische Rivalen begreifen, sondern als Feinde, wie wir es nun tendenziell bei Republikanern und Demokraten sehen, kann Demokratie nicht mehr funktionieren.

SPIEGEL: Womit wir wieder bei der Situation im Nahen Osten wären.

Harari: Deshalb ist die Zweistaatenlösung immer noch der einzig gangbare Weg für Israelis und Palästinenser. Viele sagen, sie sei tot. Aber keiner hat eine plausiblere Alternative vorgeschlagen. Leute sprechen von einer Einstaatenlösung. Die würde sich aber blitzschnell in eine Diktatur verwandeln, denn wenn zwei Gruppen sich derart fürchten und hassen, funktioniert Demokratie nicht. In einer Demokratie muss man sich darauf verlassen können, dass die anderen einem nicht schaden wollen, dass sie das Beste für die Gemeinschaft im Sinn haben. Alle bisherigen Versuche einer Zweistaatenlösung sind gescheitert. Aber wir müssen weiter dafür kämpfen. Und wir brauchen dazu Hilfe von außen.

Rauch über dem Gazastreifen

Rauch über dem Gazastreifen

Foto: Mostafa Alkharouf / Anadolu / Getty Images

SPIEGEL: Sie denken an internationale Garantien, vielleicht sogar Interventionen?

Harari: Ja. Wenn wir eine stabile Weltordnung haben, dann ist es möglich, eine gewisse Dosis an Vertrauen in diesen Konflikt hineinzuinjizieren. Wenn sie aber zusammenbricht, dann gibt es keinerlei Hoffnung auf Frieden zwischen Palästinensern und Israelis. Wenn Putin in der Ukraine siegt, dann lautet die Lehre für den Nahen Osten: Lass dich bloß nicht von ethischen Fragen oder moralischen Grundsätzen leiten, gehe keinerlei Kompromisse ein und verlasse dich nur auf deine eigene militärische Stärke.

SPIEGEL: Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

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