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Interview
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Yuval Noah Harari: „KI und Biotech könnten uns von unserer Säugetierform befreien“

Yuval Noah Harari erreicht mit seinen umstrittenen Thesen zur Zukunft der Menschheit ein ­globales Publikum, gerade hat er sein drittes Buch veröffentlicht. Wir haben mit dem israelischen Historiker über seine Ideen für ein postdigitales Zeitalter gesprochen.

Von Luca Caracciolo
8 Min. Lesezeit
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(Foto: Olivier Middendorp)


Yuval Noah Harari ist eine Art Popstar unter Historikern. Seine Bücher „Homo Deus“ und „Sapiens – Eine kurze Geschichte der Menschheit“ wurden in 49 Sprachen übersetzt. Sein neues Werk „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ erschien kürzlich in 50 Ländern gleichzeitig. Seine umstrittenen Thesen sind weltweit immer wieder Aufhänger medialer Berichterstattung. Auch auf den großen internationalen Bühnen ist er ein gefragter Mann: So philosophierte er unter anderem auf dem diesjährigen ­World ­Economic Forum vor der globalen Wirtschaftselite über die ­Zukunft der Menschheit.

Harari richtet in seinen Büchern den Blick auf das große Ganze. Wohin strebt unsere Gesellschaft? Welche Veränderungen erzielen wir durch Gentechnik? Wie sollten wir in Zukunft mit künstlicher Intelligenz umgehen? Seine provokanten ­Thesen verpackt er in eine verständliche Sprache – nicht zuletzt deswegen entfalten sie eine solche Sogwirkung für ein globales Publikum. Auch wenn er selbst immer wieder betont, als Historiker nur von möglichen Zukunftsszenarien sprechen zu können: Hararis ­Thesen prägen die Debatte um die postdigitale Zeit. Im Gespräch mit Print-Chefredakteur Luca Caracciolo sprach der Historiker über die Macht der Algorithmen, den Sinn und Unsinn von Zukunftsprognosen und über seine Ideen für die postdigitale Zeit.

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t3n Magazin: Algorithmen und Daten gelten als Treiber unserer Wirtschaft und nehmen immer stärker Einfluss auf unseren ­Alltag. Wie gut finden Sie das?

Yuval Noah Harari: Algorithmen und Daten werden uns in vielfacher Weise helfen, indem sie zum Beispiel die Zahl der Verkehrstoten reduzieren. ­Heute sterben jährlich fast 1,25 Millionen Menschen bei Verkehrsunfällen – doppelt so viele wie in Kriegen, durch ­Kriminalität und bei Terroranschlägen zusammen. Über 90 Prozent dieser Unfälle gehen auf menschliches Versagen zurück: Jemand, der Alkohol trinkt und fährt. Jemand, der am Steuer eine Nachricht schreibt oder jemand, der einschläft. Selbstfahrende Autos werden solche Fehler nicht machen, auch wenn sie ihre eigenen Probleme ­haben und bestimmten Limitierungen unterworfen sind. Und auch wenn manche Unfälle nicht vermeidbar sind, lassen sich bis zu einer Million Menschen jährlich retten, wenn Computer die Kontrolle über die Straße übernehmen.

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t3n Magazin: Klingt nach einer rosigen Zukunft. Gibt es auch Gefahren?

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Ja. Wenn künstliche Intelligenz sich etwa immer weiter verbessert, kann sie eine kleine Gruppe von Menschen dazu ­ermächtigen, Entscheidungen für jeden von uns zu treffen. Menschen könnten gezwungen werden, in einer digitalen Diktatur zu leben.

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t3n Magazin: Das hört sich bedrohlich an. Können Sie das erklären?

Im 20. Jahrhundert haben sich Demokratien gegenüber ­Diktaturen durchgesetzt, weil sie besser darin waren, Daten zu ver­arbeiten und Entscheidungen zu treffen. Demokratien verteilen Informationen und Machtausübung unter vielen Menschen und ­Institutionen, wohingegen Diktaturen Informationen und Macht an einem Ort bündeln. In Bezug auf die Technologie des 20. Jahrhunderts war es schlicht ineffizient, zu viele Informationen und Macht an einem Ort zu konzentrieren. Niemand und nichts besaß damals die Fähigkeit, alle verfügbaren Informationen schnell genug zu verarbeiten, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Es gibt aber kein Naturgesetz, dass verteilte Datenverarbeitung immer effizienter ist als zentralisierte. Bald wird künstliche Intelligenz es ermöglichen, enorme Informationsmengen zentral zu verarbeiten. In der Tat könnten zentrale Systeme dann effizienter sein als verteilte. Der größte Nachteil autoritärer ­Regime im 20. Jahrhundert könnte in der Konsequenz ihr entscheidender Vorteil im 21. Jahrhundert werden.

t3n Magazin: Und Sie glauben, dass die neuen Technologien von so ­einem autoritären Regime im 21. Jahrhundert vereinnahmt werden könnten?

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Technologie ist nie deterministisch. Wir können die gleichen technischen Mittel einsetzen, um verschiedenste Gesellschaften oder ­Situationen zu erschaffen. Zum Beispiel konnten die Menschen im 20. Jahrhundert die Technologien der industriellen Revolution – Züge, Elektrizität, Radio, Telefon – nutzen, um kommunistische Diktaturen, faschistische Regime oder liberale Demokratien zu erschaffen. Denken Sie an West- und Ostdeutschland. Beide hatten Zugang zu den gleichen Technologien, haben sie aber sehr unterschiedlich verwendet. Wie wir sie weise einsetzen, ist deshalb die größte Herausforderung, vor der die Menschheit aktuell steht. Die große Frage dabei ist: Wer entscheidet über das Wie?

t3n Magazin: So gerne wir uns auch an Prognosen versuchen – welche Antworten die Menschheit auf diese Fragen finden wird, ist heute noch völlig offen. Und dann gibt es ja auch noch die Möglichkeit, dass etwas völlig Unerwartetes passiert und den Lauf der Geschichte entscheidend verändert.

Ja. Genau wie Technologie ist auch Geschichte nie ­deterministisch und voll von unerwarteten Überraschungen. Denken Sie an das römische Imperium um 250 nach Christus. Zu jener Zeit war das Christentum nicht mehr als eine esoterische Sekte. Wenn sie damals den Römern erzählt hätten, dass innerhalb eines Jahr­hunderts das Christentum zur Staatsreligion werden wird, ­hätten sie Sie für verrückt erklärt. Ganz ähnlich im Oktober 1913, als Lenins Bolschewiki eine kleine radikale Fraktion waren. Keine vernunftbegabte Person hätte damals vorhergesagt, dass ­diese Gruppierung innerhalb von nur vier Jahren die Kontrolle über das russische Imperium erlangen würde.

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t3n Magazin: Und in Bezug auf unsere Zukunft, sagen wir mal im Jahr 2050? Wie sehr müssen wir mit unerwarteten Entwicklungen rechnen?

Das Einzige, was wir über das Jahr 2050 sicher sagen können, ist, dass es uns überraschen wird. Heute tendieren wir beispielsweise dazu, politische Kämpfe in Begriffen wie „Ausbeutung“ zu deuten: Menschen der Arbeiterklasse befürchten, dass eine Elite sie „ausbeutet“. Aber in 2050 könnte das Hauptproblem der arbeitenden Klasse nicht Ausbeutung, sondern Irrelevanz sein. Mit der fortschreitenden Entwicklung der künstlichen Intelligenz könnten wir einen Punkt erreichen, bei dem die Elite die Massen nicht mehr ausbeutet, weil sie sie schlicht nicht mehr braucht. Und das ist viel beängstigender. Aber auch dies ist nur eine Möglichkeit, keine Prophezeiung. Niemand hat eine Idee davon, wie die Welt 2050 aussehen wird.

t3n: Magazin Aber wenn wir uns ohnehin immer im Bereich des Spe­kulativen bewegen – warum sprechen wir dann so oft und gerne über die Zukunft?

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Der einzige Sinn, über die Zukunft zu sprechen, ist der, sich in die Lage zu versetzen, sie in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Welcher Mehrwert läge sonst darin, Dinge zu prophezeien, die wir nicht verändern können? Deswegen nutze ich mein historisches ­Wissen dazu, Fragen über die Zukunft zu stellen und mögliche Szenarien an die Wand zu malen. Welches Szenario Realität wird, hängt dann größtenteils von unseren eigenen Entscheidungen ab.

t3n: Magazin Lassen Sie uns über die wichtigsten Trends sprechen, die jetzt schon sichtbar sind und uns in Zukunft vermutlich stark beschäftigen werden. Welche sind das?

Im 21. Jahrhundert wird der Aufstieg der künstlichen Intelligenz und der Biotechnologien die Welt verändern. Die wichtigsten ­Produkte der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts werden vermutlich Körper, ­Gehirne und Seelen sein, sodass innerhalb von ein oder zwei Jahrhunderten die Welt von Entitäten dominiert werden wird, die sich stärker von uns unterscheiden, als wir uns heute von Neandertalern oder Schimpansen unterscheiden.

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„Das Worst-Case-­Szenario könnte sein, dass die Menschheit sich in bio­logische Kasten aufspaltet.“

t3n Magazin: Können Sie das genauer erklären?

Heute teilen wir noch immer einen Großteil unserer körper­lichen Eigenschaften, physischen Voraussetzungen und geistigen ­Fähigkeiten mit den Neandertalern und Schimpansen. Nicht nur unsere Hände, Augen und Gehirne sind deutlich humanoid, auch unsere Lust, unsere Leidenschaft, unser Zorn und unsere sozialen Bedürfnisse. Innerhalb von 200 Jahren könnte die Kombination von künstlicher Intelligenz und Biotechnologie zu körperlichen, physischen und kognitiven Eigenschaften führen, die uns komplett von unserer Säugetierform befreit. Zum Beispiel könnten Gehirn-Computer-Interfaces in verteilten Körpern existieren. Wesen, deren Organe im Raum verteilt sind. Einige glauben sogar, dass unser Bewusstsein gänzlich von organischen ­Strukturen getrennt wird und den Cyberspace frei von physischen und bio­logischen Einschränkungen bereisen könnte.

t3n Magazin: Wissenschaftler verdrehen bei solchen Szenarien ­meistens die Augen. Aber dennoch: Vor welche Herausforderungen würde uns das stellen?

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Die Gefahr könnte sein, dass wir unsere neuen ­Superkräfte nutzen, um den Menschen zu verändern, ohne dass wir das volle ­Potenzial des menschlichen Geistes verstanden haben. ­Regierungen, Unternehmen und das Militär setzen Technologien ja in der Regel ein, um Fähigkeiten zu verbessern, die sie konkret brauchen. Andere menschliche Bedürfnisse und unbekanntere Fähigkeiten des Menschen vernachlässigen sie hingegen. Zum Beispiel werden Regierungen und Unternehmen vermutlich ­Intelligenz und Disziplin fördern, während sie an der Ent­wicklung von Empathie oder Spiritualität wenig Interesse haben. Das würde in sehr intelligenten und disziplinierten Menschen resultieren, ­denen aber Empathie und spirituelle Tiefe fehlt. Wir würden einen großen Teil des menschlichen Potenzials verlieren, ohne überhaupt zu realisieren, dass wir ihn hatten. Um das zu verhindern, müssen wir noch stärker in die Entwicklung und Erforschung des menschlichen Geistes investieren – wenigstens genauso viel wie in die Erforschung und Entwicklung neuer Technologien.

t3n Magazin: Fassen wir zusammen: Was ist denn Ihre konkrete Vision für die Zeit nach der Digitalisierung?

Das Worst-Case-Szenario könnte vielleicht sein, dass die Menschheit sich in verschiedene biologische Kasten aufspaltet. Künstliche Intelligenz wird hunderte Millionen Menschen aus dem Arbeitsmarkt drängen und eine neue Klasse von Nutzlosen erzeugen. Menschen verlieren ihren ökonomischen Wert und damit ihre politische Macht. Gleichzeitig ermöglichen es ­Biotechnologien, eine kleine Elite in Supermenschen zu verwandeln. Revolte und Widerstand sind aufgrund eines totalen Überwachungsregimes nahezu unmöglich. Ein solches Regime überwacht nicht nur fortwährend, was jeder Einzelne tut und sagt, sondern auch, was er fühlt und denkt. Die Verschmelzung von Biotechnologien und Informationstechnologien in Form biometrischer Sensoren führt in einem solchen Szenario dazu, dass Regierungen direkt das Herz und das Gehirn der Menschen überwachen.

t3n Magazin: Eine derart dystopische Welt ist nicht gerade erstrebenswert. Haben Sie auch eine positive Vision?

Das Best-Case-Szenario bestünde darin, dass neue Technologien alle Menschen von der Last harter Arbeit und von Krankheiten befreien und es jedem erlauben, sein volles Potenzial zu erforschen und zu entwickeln. Biotechnologien konzentrieren sich darauf, jeden Einzelnen zu heilen, anstatt nur eine kleine Elite upzugraden. Künstliche Intelligenz eliminiert eine Vielzahl von Jobs, aber die sich daraus ergebenden Profite werden genutzt, um alle Menschen mit grundlegenden, frei verfügbaren Diensten zu versorgen und es allen zu ermöglichen, ihren Träumen zu folgen – sei es in der Kunst, im Sport, in der Religion oder im Engagement fürs Gemeinwesen. Fortgeschrittene Überwachungstechnologie wird nicht dafür eingesetzt, um Bürger zu überwachen, sondern die Regierung – was sicherstellt, dass es keine Korruption gibt. Biometrische Sensoren werden nicht von der Polizei eingesetzt, um uns besser zu überwachen, sondern dafür, um uns selbst ­besser verstehen zu lernen.

t3n Magazin: Und welches Szenario halten Sie für wahrscheinlicher?

Das Problem ist, dass künstliche Intelligenz und Biotechnologien sich nicht auf einem nationalen Level regulieren lassen. Wenn beispielsweise die meisten Länder genmanipulierte menschliche Babys verbieten, aber China es erlaubt, werden sehr schnell ­andere Länder damit beginnen, China zu kopieren. Schließlich will keiner zurückbleiben. Der einzige Weg, solche disruptiven Technologien wirksam zu regulieren, liegt in der globalen Kooperation. Mit Blick auf die zunehmenden Spannungen überall auf der Welt fürchte ich daher, dass wir uns eher in Richtung des dystopischen Szenarios bewegen.

Mehr zum Thema: Zukunftsforscherin Amy Webb – „Biotech ist das nächste große Ding“

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