Yuval Noah Harari ist ein israelischer Historiker. Er lehrt seit 2005 an der Hebräischen Universität Jerusalem. Seine populärwissenschaftliche Monografie "Eine kurze Geschichte der Menschheit" wurde zu einem internationalen Bestseller.

ZEIT ONLINE: Herr Harari, die Corona-Pandemie hat viele Länder in Europa hart getroffen. Sie sagen, dass wir uns jetzt entscheiden müssen – für Nationalismus oder mehr Zusammenarbeit. In Europa sehen wir derzeit die Tendenz, dass jedes Land für sich kämpft. Haben wir uns nicht längst entschieden?

Yuval Noah Harari: Nein, noch haben wir die Wahl. Diese Krise ist noch lange nicht vorbei, das Schlimmste steht uns noch bevor – wirtschaftlich zumindest. Am Anfang war es ein Schock. Die Regierungen wussten nicht, wie sie damit umgehen sollen. Jetzt verstehen wir die Krise besser und es sollte uns klar sein, dass der einzige Ausweg in einer stärkeren Kooperation liegt. Europa muss gemeinsam Medikamente und Impfstoffe entwickeln, Wissen muss geteilt werden. Die Staaten müssen sich gegenseitig mit medizinischer Ausrüstung und Ärzten versorgen, auch Patienten aus Krisengebieten aufnehmen. Deutschland hat das in einem gewissen Ausmaß getan und das ist ein sehr gutes Zeichen.

ZEIT ONLINE: Auch in Deutschland breitet sich das Virus rasant aus. Wird der Spielraum, sich auch noch um die anderen Staaten zu kümmern, dadurch nicht kleiner?

Harari: Wir dürfen nicht vergessen, dass sich das Zentrum der Pandemie ständig verlagert. Erst war es China, dann Italien, Spanien, jetzt wandert es Richtung Norden und in die USA. Wenn wir heute anderen Ländern helfen, helfen sie in einem Monat uns. Solange das Virus sich in anderen Gegenden ausbreitet, sind auch wir in Gefahr – es kann und wird zu uns zurückkehren. Wenn wir anderen Ländern helfen, tun wir es nicht aus Mitleid. Sondern aus Eigeninteresse. 

ZEIT ONLINE: Wie könnte eine Kooperation aussehen?

Harari: Wenn wir beispielsweise die Versorgung mit medizinischer Ausrüstung sichern wollen, dann sollten wir das im Verbund mit anderen europäischen Ländern tun. Sonst haben wir eine Fabrik in Frankreich und eine in Deutschland, beide stehen im Wettbewerb um dieselben Rohstoffe und Lieferketten und treiben den Preis hoch. Das könnten wir effizienter organisieren.

Yuval Noah Harari © KRISTOF VAN ACCOM/​BELGA MAG/​AFP/​Getty Images

ZEIT ONLINE: Die Krise ändert aber nichts daran, dass es sich um private, konkurrierende Unternehmen handelt. 

Harari: Ja, aber sie konkurrieren um Bezugsquellen außerhalb Europas. Es ergibt also viel mehr Sinn, wenn die gesamte EU diese Produktionsstoffe gemeinsam beschafft. Wir müssen auch Wissen bündeln. Die Erfahrungen in Italien können in Deutschland Leben retten. Wir müssen Experten in andere Länder schicken. Deutsche Mediziner sollten jetzt in Krisengebiete fahren, nicht nur um dort zu helfen, sondern auch um dort erworbenes Wissen in Deutschland einsetzen zu können. In zwei Wochen helfen diese Krisenländer dann ihren früheren Helfern.

ZEIT ONLINE: Könnte diese Krise, optimistisch betrachtet, uns in Europa sogar lehren, wieder stärker zu kooperieren?

Harari: Es kann jetzt in zwei Richtungen gehen. Die Menschen könnten sagen: Okay, dieser ganze Wahnsinn ist doch nur eine Folge von Globalisierung, also schließen wir lieber die Grenzen und kümmern uns nur um uns selbst. Das Problem ist aber: Aus der Sicht des Virus gibt es weder Italiener noch Deutsche. Für das Virus sind wir alle gleich, wir sind alle Beute. Das müssen wir verstehen: Um das deutsche Gesundheitssystem langfristig erhalten zu können, brauchen wir ein gutes Gesundheitssystem in Italien. Und das ist unsere Chance, dass wir gestärkt aus ihr hervorgehen und die Europäische Union als etwas wertschätzen, das mehr ist als nur eine Wirtschaftsunion.

ZEIT ONLINE: Sie sagen, es könnte auch in die andere Richtung gehen.

Harari: Ja, das ist eine große Gefahr. Viele Menschen fürchten gerade um ihr Leben, ihre Zukunft. Sie sehnen sich deshalb nach starken Führungsfiguren, die alles wissen, die sie beschützen. Viele hören auf, sich für Politik zu interessieren, weil sie glauben, dass es jetzt Wichtigeres gibt. Das ist extrem gefährlich. Politik ist jetzt wichtiger als je zuvor. Regierungen verteilen gerade Hunderte Milliarden Euro. Der Arbeitsmarkt ändert sich gewaltig, unser Ausbildungssystem auch. Das alles sind politische Entscheidungen, wir haben immer die Wahl: Welche Unternehmen retten wir, welche lassen wir sterben? Wenn jetzt so viele Menschen von zu Hause aus arbeiten, welche Rechte sollen diese Beschäftigten haben? In einem Jahr ist es zu spät für diese Entscheidungen.