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FOCUS Magazin | Nr. 21 (2023)
GESELLSCHAFT : Die Sache mit der Ident ität
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Samstag, 20.05.2023, 11:41

Der Historiker Yuval Noah Harari warnt davor, sich über die Zugehörigkeit zu einer Nation oder Religion zu definieren. Die Prägungen eines jeden Menschen reichen sehr viel tiefer. Ein Zwischenruf

Jeder Mensch fragt sich, wer er ist, woher er kommt und was seine Identität ausmacht. Diese Suche ist wichtig und faszinierend, kann aber auch zur Gefahr werden. Wenn ich versuche, eine klare Identität für mich zu definieren, verschließe ich mich möglicherweise gegenüber anderen. Ich könnte zu dem Schluss kommen, dass meine Identität durch die Zugehörigkeit zu einer einzigen Gruppe von Menschen definiert ist, indem ich die Aspekte meiner Existenz betone, die mich mit der ausgewählten Gruppe verbinden, und alle anderen ignoriere.

Der Mensch ist aber ein unglaublich komplexes Wesen. Wenn wir uns nur auf einen Teil unserer Identität konzentrieren und uns einbilden, dass nur er zählt, können wir nicht verstehen, wer wir wirklich sind. Für mich als Jude ist es zum Beispiel klar, dass jüdische Geschichte und Kultur wichtig für meine Identität sind. Aber um zu verstehen, wer ich bin, reicht die jüdische Geschichte bei Weitem nicht aus. Ich bin aus vielen Teilen zusammengesetzt, die aus der ganzen Welt kommen.

Ich liebe Fußball, das habe ich von den Briten übernommen. Sie haben das Spiel erfunden. Wenn ich also einen Ball ins Tor schieße, bin ich ein bisschen britisch. Morgens trinke ich gerne Kaffee. Das verdanke ich den Äthiopiern, die den Kaffee entdeckt haben, und den Arabern und Türken, die ihn in alle Welt verbreiteten. Ich süße meinen Kaffee gerne mit einem Löffel Zucker. Der geht auf das Konto der Papuas, die vor mindestens 8000 Jahren das Zuckerrohr in Neuguinea domestiziert haben. Manchmal verfeinere ich meinen Kaffee mit einem Stück Schokolade, was ich aus den tropischen Wäldern Mittelamerikas und Amazoniens mitbringe, wo die amerikanischen Ureinwohner vielleicht schon vor 5000 Jahren begannen, Kakao anzubauen.

Manche Juden mögen keinen Fußball, trinken keinen Kaffee und meiden Zucker und Schokolade. Dennoch verdanken sie Ausländern viel. Das Hebräische, die heilige Sprache des Judentums, hat viele seiner Wörter, Redewendungen und Grundstrukturen aus anderen Sprachen wie dem Phönizischen, Akkadischen, Griechischen, Arabischen und vor allem dem Aramäischen übernommen. Ganze Teile des Alten Testaments sind in Aramäisch und nicht in Hebräisch verfasst, ebenso große Teile der Mischna, des Talmuds und anderer wichtiger jüdischer Texte. Die alten Aramäer verehrten den Gott Haddad statt Jehova und töteten mehrere jüdische Könige, aber die hebräische Sprache und die jüdische Kultur sind ohne die aramäischen Beiträge kaum vorstellbar. Orthodoxe Juden verlassen die Welt zu den aramäischen Klängen des Kaddisch-Gebets. Irgendwann vor etwa 2500 Jahren gaben die Juden sogar ihre eigene hebräische Schrift auf und schreiben bis heute die Thora, den Talmud und ihre Tageszeitungen in aramäischer Schrift.

„Ich bin aus vielen Teilen zusammengesetzt, die aus der ganzen Welt kommen“

Die Idee der Schrift selbst stammt nicht von den Aramäern, sondern von den alten Sumerern. Tausende von Jahren bevor der erste Jude lebte, hatten einige sumerische Nerds eine Idee: Sie benutzten einen Stock, um Zeichen in ein Stück Ton zu ritzen. Sie erfanden einen Code für diese Zeichen und schufen die Technik der Schrift, die uns schließlich Bücher, Zeitungen und Websites bescherte.

Nicht nur Sprache und Schriftsystem, sondern auch zentrale religiöse Fragen bezog das Judentum von außen. Der Glaube beispielsweise, dass der Mensch eine ewige Seele hat, die im Jenseits bestraft oder belohnt wird, ist nirgendwo in der Thora erwähnt und war offensichtlich auch kein wesentlicher Bestandteil des biblischen Judentums. Der Gott des Alten Testaments verspricht den Menschen nirgendwo, dass sie, wenn sie seine Gebote befolgen, ewige Glückseligkeit im Himmel genießen werden, und nirgendwo droht er ihnen, dass sie, wenn sie sündigen, für alle Ewigkeit in der Hölle schmoren werden. Dass das Judentum zentrale religiöse Fragen von außen bezog, ist daher noch zu harmlos formuliert. Tatsächlich hatten auch zentrale religiöse Glaubenssätze ihren Ursprung außerhalb der eigenen Tradition.

Den Glauben an ein Leben nach dem Tod erhielt das Judentum vor allem von der griechischen Philosophie Platons und der persischen Religion des Zoroastrismus. Die Perser brachten den Juden auch die Vorstellung vom Teufel und vom Messias. Von der Ernährung bis zur Philosophie, von der Medizin bis zur Kunst – das meiste, was uns am Leben erhält, und das meiste, was das Leben lebenswert macht, sind Dinge, die nicht von Angehörigen meiner speziellen Nation erfunden wurden, sondern von Menschen auf der ganzen Welt. Das gilt nicht nur für Juden, sondern für alle Menschen. Einmal fragte jemand, der die afrikanischen Kulturen herabwürdigen wollte, spöttisch: „Wer ist der Tolstoi der Zulus?“ Dieser Mensch schien zu glauben, dass die Kultur keines afrikanischen Volkes – weder die der Zulus noch irgendeines anderen – literarische Werke hervorgebracht hat, die mit Tolstois „Krieg und Frieden“ oder „Anna Karenina“ vergleichbar wären. Ralph Wiley, ein afroamerikanischer Journalist, antwortete auf diese Herausforderung mit atemberaubender Einfachheit. Wiley nannte keine Zulu-Autoren wie Benedict Wallet Vilakazi, Mazisi Kunene oder John Langalibalele Dube. Er bestand auch nicht darauf, dass afrikanische Autoren wie Chinua Achebe, Chimamanda Ngozi Adichie oder Ngugi wa Thiong’o genauso gut seien wie westliche. Wiley umging diese auf Spaltung angelegte Falle völlig. Stattdessen schrieb er in seinem Buch „Dark Witness“, dass „Tolstoi der Tolstoi der Zulus ist – es sei denn, man findet einen Nutzen darin, die universellen Eigenschaften der Menschheit als exklusives Stammeseigentum einzuzäunen“.

„Ich bin ein Mensch, und nichts Menschliches ist mir fremd“ Terenz

„Ich liebe Fußball, das habe ich von den Briten übernommen“

„Tolstoi ist kein Eigentum der Russen, Tolstoi gehört uns allen“

Im Gegensatz zu den Ansichten fanatischer Rassisten und derjenigen, die die Verurteilung der „kulturellen Aneignung“ auf die Spitze treiben, ist Tolstoi nicht das ausschließliche Eigentum der Russen. Tolstoi gehört allen Menschen. Tolstoi selbst war tief beeinflusst von den Ideen von Ausländern wie dem Franzosen Victor Hugo und dem Deutschen Arthur Schopenhauer, ganz zu schweigen von Jesus und Buddha. Tolstoi spricht von Gefühlen, Fragen und Einsichten, die für die Menschen in Durban und Johannesburg ebenso relevant sind wie für jene in Moskau und St. Petersburg.

Vor zweitausend Jahren drückte der afrikanischrömische Dramatiker Terenz, ein freigelassener Sklave, denselben Schlüsselgedanken aus, als er sagte: „Ich bin ein Mensch, und nichts Menschliches ist mir fremd.“ Jeder Mensch ist Erbe der gesamten menschlichen Schöpfung. Menschen, die auf der Suche nach ihrer Identität ihre Welt auf die Geschichte einer einzigen Nation reduzieren, kehren ihrem Menschsein den Rücken zu. Sie entwerten das, was sie mit allen anderen Menschen teilen. Und sie entwerten viel Tieferes. All die Erfindungen und Ideen der Menschen in den letzten paar Tausend Jahren sind nur die obere Kruste dessen, was wir sind. Unter dieser Kruste, in den Tiefen unseres Körpers und unseres Geistes, gibt es Dinge, die sich über Millionen von Jahren entwickelt haben, lange bevor es Menschen gab. Dieses tiefe Mysterium manifestiert sich in allem, was ich fühle und denke. Um zu verstehen, wer ich bin, muss ich mich diesem Geheimnis öffnen und es erforschen, anstatt mich mit einer Geschichte darüber zu begnügen, dass ich zu einem Stamm gehöre, der ein paar Tausend Jahre lang auf ein paar Hügeln an einem Fluss gelebt hat.

Denken wir zum Beispiel an unsere Balzrituale. Was fühlen wir, wenn wir jemanden sehen, den wir attraktiv finden, wenn wir zum ersten Mal Händchen halten, wenn wir uns das erste Mal küssen? Denken wir an das Wechselbad der Gefühle, an die Hoffnungen und Ängste, an die Schmetterlinge im Bauch, an die aufsteigende Körperwärme, an die beschleunigte Atmung. Was sind das für Dinge, die Schriftsteller unendlich faszinieren und Sänger unermüdlich preisen?

Harari erzählt Geschichte

Es sind keine Dinge, die von Juden, Aramäern, Russen oder Zulus erfunden wurden. Sie wurden nicht von Menschen erfunden. Die Evolution hat sie über Jahrmillionen geformt, und wir teilen sie nicht nur mit allen anderen Menschen, sondern auch mit Schimpansen, Delfinen, Bären und vielen weiteren Tieren. Religiöse Rituale wie die jüdische Bar-Mizwa oder die christliche Eucharistie sind höchstens 2000 Jahre alt und verbinden die heutige Generation mit etwa 100 Generationen davor. Im Gegensatz dazu sind die Rituale der Säugetiere zig Millionen Jahre alt, und sie verbinden uns mit Millionen früherer Generationen von Säugetieren und sogar mit Vorfahren aus der Zeit vor den Säugetieren.

Wenn ich darauf bestehe, meine Identität auf die Zugehörigkeit zu einer bestimm- ten Menschengruppe zu beschränken, dann ignoriere ich all das. Ich lasse in meinerIdentität wenig Platz für Fußball und Schokolade, für Aramäisch und Tolstoi und sogar für Romantik. Was bleibt, ist eine enge Stammesgeschichte, die als scharfe Waffe in den Kämpfen der Identitätspolitik dienen kann, aber einen hohen Preis hat. Solange ich an dieser engen Geschichte festhalte, werde ich nie die Wahrheit über mich selbst erfahren.

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